Thursday, January 12, 2006

 
Boas und Nachfolger

Charakterisiere den Ansatz der durch Boas inspirierten, nordamerikanischen Anthropologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wodurch zeichnet sich eine relativistische Haltung in der anthropologischen Forschung aus und wie versuchten die NachfolgerInnen dieser Richtung diesen Ansatz weiterzuentwickeln?



1) FRANZ BOAS (1858 – 1942)

Franz Boas, der Begründer der Kulturanthropologie in den USA, spielt für die Kultur- und Sozialanthropologie, insbesondere durch die Wiederbelebung des Kulturrelativismus in Nordamerika eine bedeutende Rolle. Er wird auch als Wegbereiter für die Ethnosoziologie bezeichnet.

Seine bekanntesten Werke:
- „The Mind of Primitive Man“ (1911, 1938)
- „Kultur und Rasse“ (1913)
- „Primitive Art“ (1927)
- „Anthropology and Modern Life“ (1928-1938) [1]

Boas antievolutionistische Haltung, die zum Teil auf den Einfluss von Adolf Bastian zurückzuführen ist, seine kritische Stellung zum Diffusionismus und insbesondere seine akribische Erfassung ethnographischen Materials, haben die Anthropologie verändert. [2]

Franz Boas, deutsch-jüdischer Herkunft, studierte in Heidelberg, Bonn und Kiel Geographie, Mathematik und Physik. Auf seiner ersten Feldforschung bei den Eskimos auf den Baffin Island, deren ursprüngliche Intention die Erforschung der Geographie und Umwelteinflüssen war, erkannte er die Bedeutung der Kultur als bestimmender Faktor für das Verständnis von Gesellschaften. [3]

1886 immigrierte er aufgrund des vorherrschenden Diffusionismus und der heimischen politischen Unruhen (Antisemitismus) in die USA.
In den USA trug er wesentlich zur Institutionalisierung unseres Faches bei und war Mitbegründer der American Anthropological Association. [4]

Seine nächste Feldforschung führte ihn zu den Kwakiutl Indianer, an die Nordwestküste Nordamerikas. Dieser Aufenthalt untermauerte seine skeptische Haltung gegenüber den evolutionistischen Lehren, nach denen die Kwakiutl, als Wildbeuter, ums nackte Überleben („survival of the fittest“) kämpfen sollten. Im Gegenteil verfügen sie über feste Holzbauten, ein Bootswesen, ein hochspezialisiertes Handwerk und feiern Feste à Potlach („geben“), an denen sie Überschüsse und Güter herschenken. Denn nicht der Profit steht bei ihnen im Zentrum, sondern Prestige und die Sicherstellung des Zusammenhalts in der Gemeinschaft. [5]

Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen ordnete er die Masken, Objekte und Tänze der Kwakiutl nicht einem universalgeschichtlichen Muster unter, sondern versuchte sie aus ihrem alltäglichen Gebrauch, ihren rituellen Handlungen und mit den damit zusammenhängenden Mythen zu erklären. Er favorisierte eine emische Perspektive und kritisierte den evolutionistischen Ansatz, nachdem alle materiellen Zeugnisse einer Kultur einem unilinearen Entwicklungsschema unterliegen. Er war somit auch ein bedeutender Vorreiter für die Kunstethnologie. [6]

Boas konstatierte den „Four Field Approach“, die amerikanische Variante zur Völkerkunde, die die linguistische, archäologische, sozial-/kultur- und physische Anthropologie umfasst. Neben dem „Four Field Approach“ spielte für Boas die Sprache eine zentrale Rolle --> „Kultur ist wie Sprache“. Die Sprache fungiert einerseits als Spiegel, andererseits als Zugang zu einer Kultur. Diese neuen Ansätze zur Sprache stellten einen bedeutenden Beitrag für die ethnologische Feldforschung dar. [7]

Im Bereich der physischen Anthropologie betonte Boas, dass es keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Menschen verschiedener Kulturen gibt und vollzieht eine klare Trennung zu biologistischen Ansätzen. [8]



2) KULTURRELATIVISMUS

Der Kulturrelativismus als Gegenströmung zum Evolutionismus und Ethnozentrismus besagt, dass jede Kultur relativ und nur aus sich selbst heraus zu verstehen ist. Für die unvoreingenommene Erforschung fremdartiger Kulturen und Gesellschaften stellt der Kulturrelativismus einen bedeutenden Ausgangspunkt dar. Im Gegensatz zum Ethnozentrismus, der andere Kulturen anhand der eigene Ethnie, bewertet und einstuft z.B. die Kwakiutl Indianer haben nach dieser Bewertung aufgrund der fehlenden Elektrizität ein weniger erfülltes Leben, und die Aborigines werden wegen ihrer geringen materialistisch orientierten Gesellschaft als primitiv bezeichnet, ungeachtet ihrer komplexen sozialen Struktur.
Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus setzte sich Boas verstärkt gegen Rassismus und jede Form von Intoleranz ein. [9]

Boas prägte darüber hinaus den historischen Partikularismus, die Sicht, dass jede Kultur ihre eigene Geschichte und Entwicklung hat. [10]

Beim Kulturrelativismus ist zu unterscheiden zwischen einem starken und schwachen Kulturrelativismus. Der starke Kulturrelativismus verabsolutiert die Unterschiede zwischen Kulturen, negiert Vergleiche und führt bis zu nationalistischen Argumentationen --> relativ = absolut. Im Gegensatz werden im schwachen Kulturrelativismus (Boas´schen Tradition) die Gleichwertigkeiten der Kulturen, unter Berücksichtigung gewisser Besonderheiten, betont --> relativ = relativ. Die Universalisten legen im Vergleich ihren Fokus nur auf Gemeinsamkeiten und lassen Besonderheiten völlig außer Acht. [11]


Kritik am Kulturrelativismus

Ein starker Kulturrelativismus der eine abrupte Grenzziehung zur Folge hat, kann durch seine Überbetonung der Unterschiede und unter außer Acht Lassung der Ähnlichkeiten von menschlichen Gesellschaften, in eine Exotisierung bis hin zum Nationalismus ausarten. Die Folgewirkungen sind unabsehbar, und eine Instrumentalisierung zum Missbrauch ist einfacher gegeben z.B. im 2. Weltkrieg. Darüber hinaus führt es zur elitären Ausrichtung der Kultur- und Sozialanthropologie. [12]



3) SCHÜLER BOAS

Die beiden Strömungen Boas Gedankenguts, einerseits der Historische, und andererseits der Psychologische, werden von seinen Schülern in unterschiedlicher Weise aufgegriffen. [13]

3 Generationen nach Boas:
1. Generation - die „Boasianer“ - vor dem 1. Weltkrieg - historischer Schwerpunkt
2. Generation – Zwischenkriegszeit – psychologisch geprägt
3. Generation – Nachkriegszeit – kritischen Ansatz vertreten [14]


1. Generation

Die erste Generation orientierte sich stark nach der deutschsprachigen Tradition und verfolgte einen härteren Kulturrelativismus, insbesondere Alfred L. Kroeber (1876 – 1960), versuchte die kulturrelativistischen Elemente Boas zu stärken. Im Gegensatz zu Robert Lowie (1883 – 1957) wendet sich Kroeber gegen die Lehren von Boas, u.a. durch sein Werk „Superorganic“. Kroeber sieht Kultur als ein überorganisches Konstrukt und dieses Überorganische konzentriere sich in Schlüsselsymbole. Mit seinen Schülern z.B. Clyde Kluckhohn (1905 – 1960), Clifford Geertz (1926 - ), … erarbeitete er eine Vielzahl von Kulturkonzepten, die er schlussendlich als unbefriedigend und fehlerhaft verwarf. Im Gegensatz zu Alfred Kroeber sind die Werke Robert Lowies von größerer Bedeutung. Zu seinen großen Errungenschaften zählte die Einführung des historischen Verständnisses in die amerikanische Anthropologie. [15]

Edward Sapir (1884 – 1939) wird sowohl zur 1. als auch zur 2. Generation zugerechnet. Sapir führte das linguistische Erbe Boas fort. Er gilt durch die, mit seinem Schüler Benjamin Whorf entworfene linguistische Relativitätstheorie, als Begründer der linguistischen Anthropologie. Seine Theorie Sprache, Denken, Wirklichkeit besagt, dass sich das Denken sprachabhängig gestaltet und aus diesen sprachlichen Strukturen setzt sich die Wirklichkeit zusammen. Dieser Ansatz ist auch heutzutage noch von einer bestimmten Relevanz, jedoch ist anzumerken, dass sie von Sapir und Whorf zu simple angewandt wurde. Kleinkinder die bereits vor Erlangen ihrer sprachlichen Fähigkeiten über eine abstrakte Denkweise verfügen, wurden gänzlich ignoriert. [16]


2. Generation

Die zwei weiblichen Vertreter der zweiten Generation Ruth Benedict (1887 – 1948) und Margaret Mead (1901 – 1978) gehören zu den Bekanntesten unseres Faches. Ihre Werke „Patterns of Culture“ (1934) von Ruth Benedict und „Coming of Age in Samoa“ (1928) von Margaret Mead finden sich auch heutzutage noch auf der Bestsellerliste der Anthropologie. [17]

Benedict unterscheidet in ihrem Werk „Patterns of Culture“ 3 verschiedene Völker:
· die Zunis in New Mexico,
· die Kwakiutl in Nordamerika (von Boas erforscht) und
· die Dubuans in Melanesien,

miteinander nach Charakterzügen und teilt diese mit Anlehnung an Nietzsche in ‚apollonian’ (Recht, Strafe, Bewahrung der Ordnung) und ‚dionysian’ (Feiern) ein. Diese Kategorisierung führte leicht zur Bildung von Stereotypen und ist daher heutzutage von geringerer Relevanz. Darüber hinaus kam sie zu dem Schluss, dass Normalität immer im Kontext der spezifischen Kultur heraus definiert werden sollte. [18]

Margaret Mead beschreibt in ihrem Buch „Coming of Age in Samoa“ das Heranwachsen Jugendlicher und ihre freizügige Sexualität. Ihr Werk wurde insbesondere von Derek Freeman kritisiert, der ihr einen zu geringen Beobachtungszeitraum und eine Ausfilterung der Informationen vorwarf. [19]

Eine von Benedicts und Meads großer Verdienste sind die Anregungen zur Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und Identität und die Liberalisierung unseres Faches, durch die Erweiterung der bis dahin männlich dominanten Sichtweisen, auf Frauen, Kinder und Jugendliche. [20]

Der Vorwurf an die beiden Autoren beruht einerseits auf der Verfolgung eines härteren Kulturrelativismus und andererseits, besonders bei Margarets Meads Werk, auf deren ethnographischer Richtigkeit. Darüber hinaus ist die Anwendung ihrer Culture & Personality Richtung, vornehmlich durch Ruth Benedict, in Form von Nationalcharakterstudien der Kriegsgegner im 2. Weltkrieg zu kritisieren. [21]


3. Generation

Die dritte Generation nach Boas kennzeichnet sich durch die klare Abwendung von der relativistischen Haltung hin zum Universalismus. [22]

Julien Steward (1902 – 1972) gilt als Gründer des Neoevolutionismus der hingegen zu Morgans Evolutionsmus die Multilinearität in den Mittelpunkt stellt. Das bedeutet, dass nicht mehr die westliche Entwicklung die Krönung darstellt, sondern mehrer Entwicklungsrichtungen möglich sind. George P. Murdock (1897–1985) bedeutendste Leistung war die Quantifizierung und Sammlung von Daten, die er mit Hilfe seiner Cross-Culture-Survey aufbereitete, in der Datenbank HRAF (Human Relation Area Files). Lesslie A. White (1900 – 1975) vertritt einen auf Energieaustausch/Energieverbrauch basierenden Neoevolutionismus. Die Komplexität einer Gesellschaft lässt sich demzufolge an dem Ausmaß der Energieumwandlung bemessen. Steward und White sind aufgrund ihrer umweltbezogenen Arbeiten wichtige Vertreter der ökologischen Anthropologie. [23]



4) RELATIVISMUS IN DER HEUTIGEN ANTHROPOLOGIE

Ein starker Relativismus ist in der heutigen anthropologischen Forschung kaum mehr anzutreffen. Barnard erwähnt zwei Strömungen, die des Modernismus und die des Postmodernismus. Der modernistische Ansatz ist durch Rückgriff auf formale Muster des Denkens gekennzeichnet z.B. Ethnobotanik, Ethnozoologie, …, wohingegen im Postmodernismus die Interpretation der Interaktion von Individuen im Vordergrund steht. [24]


Quellen

[1] [3] [4] Barth, Frederik: Britain And The Commonwealht : Barth, Frederic, u.a.:One Discipline, Four Ways: British, German, French and American Anthropologie; Chicago 2005, S. 258 – 260

[8] [13] [15] Barth, Frederik: Britain And The Commonwealht : Barth, Frederic, u.a.:One Discipline, Four Ways: British, German, French and American Anthropologie; Chicago 2005, S. 261 – 264

[15] [16] [18] [19] Barth, Frederik: Britain And The Commonwealht : Barth, Frederic, u.a.:One Discipline, Four Ways: British, German, French and American Anthropologie; Chicago 2005, S. 265-269

[2] Barnard, Alan: History And Theory In Anthropology, 5. Aufl. Cambridge 2000, S. 55

[3] [9] Barnard, Alan: History And Theory In Anthropology, 5. Aufl. Cambridge 2000, S. 101

[18] Barnard, Alan: History And Theory In Anthropology, 5. Aufl. Cambridge 2000, S. 102 - 103

[24] Barnard, Alan: History And Theory In Anthropology, 5. Aufl. Cambridge 2000, S. 114

[9] Eriksen, Hylland Thomas: Small Places, Large Issues, An Introduction to Social and Cultural Anthropologie, 2.Aufl. London 2001 (1999) S. 6 - 8

[3] [7] ] [10] [16] Eriksen, Hylland Thomas: Small Places, Large Issues, An Introduction to Social and Cultural Anthropologie, 2.Aufl. London 2001 (1999) S. 13 - 14

[23] Eriksen, Hylland Thomas: Small Places, Large Issues, An Introduction to Social and Cultural Anthropologie, 2.Aufl. London 2001 (1999) S. 195

[6] Fischer Hans, Beer Bettina: Ethnologie Einführung und Überblick, 5. Auf. Berlin 2003 (1983) S. 224 - 225

[2] [4] [7] [11] [12] [14] [15] [16] [17] [20] [21] [22] [23] LV Einführung in die Geschichte der Kultur- und Sozialanthropologie – Univ. Prof. Dr. Andre Gingrich, WS 2005/2006


Internetquellen:

[1] [3] [5] [9] http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Boas
[9]
http://de.wikipedia.org/wiki/Kulturrelativismus

Wednesday, November 23, 2005

 
Evolutionismus


1) Von welchen Prämissen geht der Evolutionismus aus und wie können die Grundannahmen und Forschungsergebnisse des Evolutionismus in der heutigen Sozial- und Kulturanthropologie integriert und bewertet werden?


1. Evolutionismus („evolutio“ = sich herauswinden)

Der Evolutionismus bestimmte in der zweiten Hälfte des 19. Jdhts die Ethnologie und trug wesentlich zur Etablierung der Ethnologie als moderne universitäre Disziplin bei.
Die Evolutionstheorie des Biologen Charles Darwin bildete den Ausgangspunkt des Evolutionismus und lieferte den Sozialwissenschaften ein wichtiges Erklärungsmodell.

Evolutionismus bezeichnet die Entstehung und Entwicklung einfacher Systeme hin zu Komplexeren, sowie deren Weiterentwicklung oder Verfall. Die Sozialdarwinisten vertreten die Ansicht, dass sich die verschiedenen Kulturen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen befinden, wobei die westlichen Industrieländer die Krönung dieses Stufenmodells darstellen und als Bemessungsgrundlage für die übrigen Gesellschaften herangezogen werden. [1]



1.1. Bedeutende Evolutionisten:

· Lewis Henry MORGAN (1820 – 1903)
· Edward Burnett TYLOR (1832–1917)
· James FRAZER (1854–1941)
· Henry Sumner MAINE (1822–1888)
· Johann Jakob BACHOFEN (1815 - 1887)
· John Ferguson MCLENNAN (1827-1881)


Lewis Henry Morgan unterteilte in seinem berühmtesten Werk „Ancient Society“ die menschliche Entwicklung in drei Wirtschaftsstufen:

· Wildheit: Sammler & Jäger
· Barbarei: Bodenbauern & Nomaden
· Zivilisation: staatlich, organisierte Agrargesellschaften

Morgan hatte aufgrund seiner Fokussierung der menschlichen Entwicklung auf den wirtschaftlichen und sozialen Bereich, einen unverkennbaren Einfluss auf die Abhandlungen von Karl Marx sowie von Friedrich Engel.

Neben diesen ökonomischen Kriterien entwickelte Morgan eine Evolutionsgeschichte von Verwandtschaftsbeziehungen à vom Stadium ursprünglicher Promiskuität über matrilineare und patrilineare Verwandtschaftsverhältnisse hin zur monogamen Kernfamilie.

Demzufolge hätte sich die Menschheit von der Wildheit hin zur Zivilisation entwickelt. Aus heutiger Sicht ist diese Wertung nicht vertretbar, vor allem die Bindung von Entwicklung an technologische Errungenschaften ist nicht haltbar. [2]

Weitere wichtige Vertreter des Evolutionismus sind Edward Burnett Tylor („Primitive Culture“) und sein Schüler James Frazer („The Golden Bough“), die im Gegensatz zu Morgan, sich nach der religiösen Entwicklung einer Gesellschaft richteten. Nach ihnen sind Animismus und Totemismus über verschiedene Zwischenstufen wie den Polytheismus bis hin zum Monotheismus aufeinander chronologisch historisch aufbauend.

Tylor entwickelte ein Konzept von „Survival“, welches überdauerte Kulturreste bezeichnet, die mit der gegenwärtigen Gesellschaftsform nichts zu tun haben, aber Rückschlüsse auf vergangene Zeiten zulassen sollen. Darüber hinaus war Tylor einer der ersten, der den Begriff Kultur als Gesamtheit der menschlichen Manifestationen (Sitten, Religion, Wirtschaft, Verwandtschaftsverhältnisse, …) definierte. [3]

Bedeutend für die fortschreitende Entwicklung war auch die Betrachtung der politischen Formen – der Übergang von verwandtschaftlichen organisierten zu territorial begründeten Gesellschaften. Henry Sumner Maine bezeichnete diese zwei Stufen als societas und civitas. Heutzutage ist eine Trennung dieser beiden nicht ratsam, da verwandtschaftliche und politische Formen meist koexistieren. Eine lineare und evolutionistische Auffassung der Kulturgeschichte lag auch den Arbeiten zum frühen Mutterrecht von Johann Jakob Bachofen zugrunde. [4]



1.2. Verdienste des Evolutionismus – Anwendung in der heutigen Kultur- & Sozialanthropologie


· Ansammlung immenser Ethnographien
· Entwicklung noch heute relevanter Fragestellungen
· Die entwickelte, beschreibende, einführende Terminologie für die unterschiedlichen Weltbilder (Exogamie, Totemismus, Animismus, …) [6]






1.3. Was spricht gegen den Evolutionismus?

· Ethnozentrismus / Eurozentrismus: Die Beurteilung außereuropäischer Kulturen nach europäischen Standard. Die Gleichsetzung technologischem mit sozialen und kulturellen Fortschritt ist nicht haltbar.
· Evolutionismus ist ahistorisch. Dem sozialen Wandel ohne Einbezug der Geschichte zu analysieren führt unweigerlich zu einer fehlerhaften Darstellung.
· Stufenmodelle der Evolutionisten sind rein spekulativ
· Legitimation der Kolonialisierung durch das Argument der Rückständigkeit und der Pflicht der Europäer die „Wilden“ zu zivilisieren. siehe Kipling: „the white man’s burden“
· armchair anthropologists: Theorien stützen sich oftmals nicht auf eigene Feldforschungen, sondern auf das von Missionaren, … zusammengetragenes Datenmaterial. Siehe Frazers Reaktion auf die Frage, ob er bereits Kontakt mit den Wilden hatte: „Heaven forbid!“ [5]


Nicht außer Acht zu lassen ist, dass der Entwicklungsglaube / Fortschrittsglaube, sprich die evolutionistische Herangehensweise zu optimistisch und naiv war, welche unweigerlich zur Erschöpfung natürlicher Ressourcen, Gewalt, Konflikte, … führte.

In der Anthropologie ist der Evolutionismus mit jeder Menge negativem Beigeschmack behaftet. Die Kritik sollte sich laut Prof. Gingrich an den „Alltagsevolutionismus“ wenden, der die eigene Kultur als die fehlerfreie, anstrebende Spitze der Entwicklung sieht, und die eigenständige Entwicklung anderer Kulturen ausblendet. Alltagsevolutionismus basiert auf Superioritätsgedanken und profunden Rassismus. [7]




2) Diskutiere die theoretische Basis dieser anthropologischen Strömung im Zusammenhang mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen bzw. mit politischen und wirtschaftlichen Kategorien der Gegenwart.


Um die Jahrhundertwende erfolgte eine Abwendung vom Evolutionismus in zwei Richtungen. Einerseits, in der amerikanischen Anthropologie, in die von Franz Boas entwickelte Richtung des Kulturrelativismus, die die Bewertung einer Gesellschaft auf einer evolutionistischen Werteskala entschieden ablehnen und im Bereich der britischen Sozialanthropologie, nach einem kurzen Zwischenspiel des Diffusionismus, in die Richtung des von Malinowski und Radcliffe-Brown geprägten Funktionalismus. [8]

Die Schüler Boas griffen den Evolutionsgedanken erneut auf und begründeten den Neoevolutionismus. Ein wesentlicher Unterschied zu Morgans Evolutionismus stellt der Fokus auf die Multilinearität dar (mehrer Entwicklungsrichtungen sind möglich), und auf die Verwendung von mess- und nachprüfbare Informationen um den Prozess der kulturellen Evolution zu analysieren. [9]

Der Neoevolutionismus lehnt viele Grundgedanken des klassischen Evolutionsimus ab und beschäftigt sich mit langfristigem, evolutionärem sozialem Wandel und mit wiederkehrenden Mustern der Entwicklung, die in voneinander unabhängigen Kulturen zu beobachten sind. Kulturwandel soll nicht durch Biologie oder Psychologie erklärt werden, sondern sich an naturwissenschaftlichen Methoden orientieren. [10]

Die Neoevolutionisten richten ihr Augenmerk auch auf die Bedeutung von Umwelt und technologisierten Faktoren auf die Kultur und Gesellschaften.


Beispiele für Neo-Evolutionistische Ansätze:

· Kulturökologie oder multilinearer Evolutionismus (Julian Steward 1902-1970)
· Kultureller Materialismus (Marvin Harris)
· Kulturelle Evolution ist Ausdruck des Energieverbrauchs pro Kopf (Leslie White 1990-1975)
Dieser Schlussfolgerung liegen allerdings ebenfalls eine Bewertung und ein Blickwinkel der westlichen Industriegesellschaften zu Grunde. [11]


Die frühen Thesen des Evolutionismus sind trotz seiner Unhaltbarkeit auch heutzutage noch anzutreffen z.B. in Talkshows, Zeitungen, …


Auch im 21. Jahrhundert scheint die Ablegung einer eurozentrischen Sichtweise eine schwer passierbare Hürde darzustellen. z.B. in Bezeichnungen wie Naher Osten, Vorderasien und der Westen.



Die Evolutionstheorie sorgt nach wie vor für heftige Diskussionen, wie die von Kardinal Christoph Schönborn getätigte Aussage:

"Evolution im Sinn einer gemeinsamen Abstammung könnte wahr sein, aber Evolution im neodarwinistischen Sinne - ein ungeleiteter, nicht geplanter Prozess zufälliger Variation und natürlicher Auswahl - ist es nicht. Jedes Denksystem, das die überwältigenden Beweise für einen Plan (design) in der Biologie leugnet oder wegerklären will, ist Ideologie, nicht Wissenschaft" [12]

im Juli 2005, vergegenwärtigt. Wissenschaftler weisen diesen Ansatz vehement zurück.
Eine Parallele von Schönborns Aussage ist zu dem, in den USA entwickelten Konzept eines „intelligenten Designs“, das als Alternative zur Evolutionstheorie unterrichtet werden soll, erkennbar.

„Die Theorie vom "Intelligenten Design" findet seit einigen Jahren in den USA wachsende Verbreitung. Im Unterschied zum traditionellen Kreationismus, der das biblische Buch Genesis wörtlich nimmt, leugnet diese Theorie nicht, dass sich die Erde über mehr als vier Milliarden Jahre hinweg entwickelt hat. Sie deutet die komplexen Strukturen der Natur jedoch als Beleg dafür, dass eine übergeordnete Intelligenz dahinter stecken müsse.“ [13]



Immanuel Kant: «Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen sind leer

Wissenschaft auf einzelne Ergebnisse zu reduzieren, und die daraus resultierenden Theorien zu immunisieren, wäre fatal. Die fortwährende Überprüfung soll mit wissenschaftlichem Arbeiten einhergehen.

Der Evolutionismus weist viele Fehlentwicklungen auf, aber dennoch sollte man die Bedeutung dieser Strömung nicht degradieren.




Quellen:

[3] [5] [6] Barth, Frederik: Britain And The Commonwealht : Barth, Frederic, u.a.:One Discipline, Four Ways: British, German, French and American Anthropologie; Chicago 2005, S. 8 - 10

[2] [3] Eriksen, Hylland Thomas: Small Places, Large Issues, An Introduction to Social and Cultural Anthropologie, 2.Aufl. London 2001 (1999) S. 11 - 13

[2] [3] Fischer Hans, Beer Bettina: Ethnologie Einführung und Überblick, 5. Auf. Berlin 2003 (1983) S. 46 – 48

[2] [4] [10] Fischer Hans, Beer Bettina: Ethnologie Einführung und Überblick, 5. Auf. Berlin 2003 (1983) S. 162 – 163

[4] Fischer Hans, Beer Bettina: Ethnologie Einführung und Überblick, 5. Auf. Berlin 2003 (1983) S. 181

[8] Fischer Hans, Beer Bettina: Ethnologie Einführung und Überblick, 5. Auf. Berlin 2003 (1983) S. 274


[1] [5] [7] LV Einführung in die Geschichte der Kultur- und Sozialanthropologie – Univ. Prof. Dr. Andre Gingrich, WS 2005/2006





Internetquellen:
[5] [6] [9] [10] [11] http://de.wikipedia.org/wiki/Evolutionismus

[12] http://derstandard.at/?url=/?id=2107567

[13] http://science.orf.at/science/news/138639





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