Wednesday, November 23, 2005

 
Evolutionismus


1) Von welchen Prämissen geht der Evolutionismus aus und wie können die Grundannahmen und Forschungsergebnisse des Evolutionismus in der heutigen Sozial- und Kulturanthropologie integriert und bewertet werden?


1. Evolutionismus („evolutio“ = sich herauswinden)

Der Evolutionismus bestimmte in der zweiten Hälfte des 19. Jdhts die Ethnologie und trug wesentlich zur Etablierung der Ethnologie als moderne universitäre Disziplin bei.
Die Evolutionstheorie des Biologen Charles Darwin bildete den Ausgangspunkt des Evolutionismus und lieferte den Sozialwissenschaften ein wichtiges Erklärungsmodell.

Evolutionismus bezeichnet die Entstehung und Entwicklung einfacher Systeme hin zu Komplexeren, sowie deren Weiterentwicklung oder Verfall. Die Sozialdarwinisten vertreten die Ansicht, dass sich die verschiedenen Kulturen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen befinden, wobei die westlichen Industrieländer die Krönung dieses Stufenmodells darstellen und als Bemessungsgrundlage für die übrigen Gesellschaften herangezogen werden. [1]



1.1. Bedeutende Evolutionisten:

· Lewis Henry MORGAN (1820 – 1903)
· Edward Burnett TYLOR (1832–1917)
· James FRAZER (1854–1941)
· Henry Sumner MAINE (1822–1888)
· Johann Jakob BACHOFEN (1815 - 1887)
· John Ferguson MCLENNAN (1827-1881)


Lewis Henry Morgan unterteilte in seinem berühmtesten Werk „Ancient Society“ die menschliche Entwicklung in drei Wirtschaftsstufen:

· Wildheit: Sammler & Jäger
· Barbarei: Bodenbauern & Nomaden
· Zivilisation: staatlich, organisierte Agrargesellschaften

Morgan hatte aufgrund seiner Fokussierung der menschlichen Entwicklung auf den wirtschaftlichen und sozialen Bereich, einen unverkennbaren Einfluss auf die Abhandlungen von Karl Marx sowie von Friedrich Engel.

Neben diesen ökonomischen Kriterien entwickelte Morgan eine Evolutionsgeschichte von Verwandtschaftsbeziehungen à vom Stadium ursprünglicher Promiskuität über matrilineare und patrilineare Verwandtschaftsverhältnisse hin zur monogamen Kernfamilie.

Demzufolge hätte sich die Menschheit von der Wildheit hin zur Zivilisation entwickelt. Aus heutiger Sicht ist diese Wertung nicht vertretbar, vor allem die Bindung von Entwicklung an technologische Errungenschaften ist nicht haltbar. [2]

Weitere wichtige Vertreter des Evolutionismus sind Edward Burnett Tylor („Primitive Culture“) und sein Schüler James Frazer („The Golden Bough“), die im Gegensatz zu Morgan, sich nach der religiösen Entwicklung einer Gesellschaft richteten. Nach ihnen sind Animismus und Totemismus über verschiedene Zwischenstufen wie den Polytheismus bis hin zum Monotheismus aufeinander chronologisch historisch aufbauend.

Tylor entwickelte ein Konzept von „Survival“, welches überdauerte Kulturreste bezeichnet, die mit der gegenwärtigen Gesellschaftsform nichts zu tun haben, aber Rückschlüsse auf vergangene Zeiten zulassen sollen. Darüber hinaus war Tylor einer der ersten, der den Begriff Kultur als Gesamtheit der menschlichen Manifestationen (Sitten, Religion, Wirtschaft, Verwandtschaftsverhältnisse, …) definierte. [3]

Bedeutend für die fortschreitende Entwicklung war auch die Betrachtung der politischen Formen – der Übergang von verwandtschaftlichen organisierten zu territorial begründeten Gesellschaften. Henry Sumner Maine bezeichnete diese zwei Stufen als societas und civitas. Heutzutage ist eine Trennung dieser beiden nicht ratsam, da verwandtschaftliche und politische Formen meist koexistieren. Eine lineare und evolutionistische Auffassung der Kulturgeschichte lag auch den Arbeiten zum frühen Mutterrecht von Johann Jakob Bachofen zugrunde. [4]



1.2. Verdienste des Evolutionismus – Anwendung in der heutigen Kultur- & Sozialanthropologie


· Ansammlung immenser Ethnographien
· Entwicklung noch heute relevanter Fragestellungen
· Die entwickelte, beschreibende, einführende Terminologie für die unterschiedlichen Weltbilder (Exogamie, Totemismus, Animismus, …) [6]






1.3. Was spricht gegen den Evolutionismus?

· Ethnozentrismus / Eurozentrismus: Die Beurteilung außereuropäischer Kulturen nach europäischen Standard. Die Gleichsetzung technologischem mit sozialen und kulturellen Fortschritt ist nicht haltbar.
· Evolutionismus ist ahistorisch. Dem sozialen Wandel ohne Einbezug der Geschichte zu analysieren führt unweigerlich zu einer fehlerhaften Darstellung.
· Stufenmodelle der Evolutionisten sind rein spekulativ
· Legitimation der Kolonialisierung durch das Argument der Rückständigkeit und der Pflicht der Europäer die „Wilden“ zu zivilisieren. siehe Kipling: „the white man’s burden“
· armchair anthropologists: Theorien stützen sich oftmals nicht auf eigene Feldforschungen, sondern auf das von Missionaren, … zusammengetragenes Datenmaterial. Siehe Frazers Reaktion auf die Frage, ob er bereits Kontakt mit den Wilden hatte: „Heaven forbid!“ [5]


Nicht außer Acht zu lassen ist, dass der Entwicklungsglaube / Fortschrittsglaube, sprich die evolutionistische Herangehensweise zu optimistisch und naiv war, welche unweigerlich zur Erschöpfung natürlicher Ressourcen, Gewalt, Konflikte, … führte.

In der Anthropologie ist der Evolutionismus mit jeder Menge negativem Beigeschmack behaftet. Die Kritik sollte sich laut Prof. Gingrich an den „Alltagsevolutionismus“ wenden, der die eigene Kultur als die fehlerfreie, anstrebende Spitze der Entwicklung sieht, und die eigenständige Entwicklung anderer Kulturen ausblendet. Alltagsevolutionismus basiert auf Superioritätsgedanken und profunden Rassismus. [7]




2) Diskutiere die theoretische Basis dieser anthropologischen Strömung im Zusammenhang mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen bzw. mit politischen und wirtschaftlichen Kategorien der Gegenwart.


Um die Jahrhundertwende erfolgte eine Abwendung vom Evolutionismus in zwei Richtungen. Einerseits, in der amerikanischen Anthropologie, in die von Franz Boas entwickelte Richtung des Kulturrelativismus, die die Bewertung einer Gesellschaft auf einer evolutionistischen Werteskala entschieden ablehnen und im Bereich der britischen Sozialanthropologie, nach einem kurzen Zwischenspiel des Diffusionismus, in die Richtung des von Malinowski und Radcliffe-Brown geprägten Funktionalismus. [8]

Die Schüler Boas griffen den Evolutionsgedanken erneut auf und begründeten den Neoevolutionismus. Ein wesentlicher Unterschied zu Morgans Evolutionismus stellt der Fokus auf die Multilinearität dar (mehrer Entwicklungsrichtungen sind möglich), und auf die Verwendung von mess- und nachprüfbare Informationen um den Prozess der kulturellen Evolution zu analysieren. [9]

Der Neoevolutionismus lehnt viele Grundgedanken des klassischen Evolutionsimus ab und beschäftigt sich mit langfristigem, evolutionärem sozialem Wandel und mit wiederkehrenden Mustern der Entwicklung, die in voneinander unabhängigen Kulturen zu beobachten sind. Kulturwandel soll nicht durch Biologie oder Psychologie erklärt werden, sondern sich an naturwissenschaftlichen Methoden orientieren. [10]

Die Neoevolutionisten richten ihr Augenmerk auch auf die Bedeutung von Umwelt und technologisierten Faktoren auf die Kultur und Gesellschaften.


Beispiele für Neo-Evolutionistische Ansätze:

· Kulturökologie oder multilinearer Evolutionismus (Julian Steward 1902-1970)
· Kultureller Materialismus (Marvin Harris)
· Kulturelle Evolution ist Ausdruck des Energieverbrauchs pro Kopf (Leslie White 1990-1975)
Dieser Schlussfolgerung liegen allerdings ebenfalls eine Bewertung und ein Blickwinkel der westlichen Industriegesellschaften zu Grunde. [11]


Die frühen Thesen des Evolutionismus sind trotz seiner Unhaltbarkeit auch heutzutage noch anzutreffen z.B. in Talkshows, Zeitungen, …


Auch im 21. Jahrhundert scheint die Ablegung einer eurozentrischen Sichtweise eine schwer passierbare Hürde darzustellen. z.B. in Bezeichnungen wie Naher Osten, Vorderasien und der Westen.



Die Evolutionstheorie sorgt nach wie vor für heftige Diskussionen, wie die von Kardinal Christoph Schönborn getätigte Aussage:

"Evolution im Sinn einer gemeinsamen Abstammung könnte wahr sein, aber Evolution im neodarwinistischen Sinne - ein ungeleiteter, nicht geplanter Prozess zufälliger Variation und natürlicher Auswahl - ist es nicht. Jedes Denksystem, das die überwältigenden Beweise für einen Plan (design) in der Biologie leugnet oder wegerklären will, ist Ideologie, nicht Wissenschaft" [12]

im Juli 2005, vergegenwärtigt. Wissenschaftler weisen diesen Ansatz vehement zurück.
Eine Parallele von Schönborns Aussage ist zu dem, in den USA entwickelten Konzept eines „intelligenten Designs“, das als Alternative zur Evolutionstheorie unterrichtet werden soll, erkennbar.

„Die Theorie vom "Intelligenten Design" findet seit einigen Jahren in den USA wachsende Verbreitung. Im Unterschied zum traditionellen Kreationismus, der das biblische Buch Genesis wörtlich nimmt, leugnet diese Theorie nicht, dass sich die Erde über mehr als vier Milliarden Jahre hinweg entwickelt hat. Sie deutet die komplexen Strukturen der Natur jedoch als Beleg dafür, dass eine übergeordnete Intelligenz dahinter stecken müsse.“ [13]



Immanuel Kant: «Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen sind leer

Wissenschaft auf einzelne Ergebnisse zu reduzieren, und die daraus resultierenden Theorien zu immunisieren, wäre fatal. Die fortwährende Überprüfung soll mit wissenschaftlichem Arbeiten einhergehen.

Der Evolutionismus weist viele Fehlentwicklungen auf, aber dennoch sollte man die Bedeutung dieser Strömung nicht degradieren.




Quellen:

[3] [5] [6] Barth, Frederik: Britain And The Commonwealht : Barth, Frederic, u.a.:One Discipline, Four Ways: British, German, French and American Anthropologie; Chicago 2005, S. 8 - 10

[2] [3] Eriksen, Hylland Thomas: Small Places, Large Issues, An Introduction to Social and Cultural Anthropologie, 2.Aufl. London 2001 (1999) S. 11 - 13

[2] [3] Fischer Hans, Beer Bettina: Ethnologie Einführung und Überblick, 5. Auf. Berlin 2003 (1983) S. 46 – 48

[2] [4] [10] Fischer Hans, Beer Bettina: Ethnologie Einführung und Überblick, 5. Auf. Berlin 2003 (1983) S. 162 – 163

[4] Fischer Hans, Beer Bettina: Ethnologie Einführung und Überblick, 5. Auf. Berlin 2003 (1983) S. 181

[8] Fischer Hans, Beer Bettina: Ethnologie Einführung und Überblick, 5. Auf. Berlin 2003 (1983) S. 274


[1] [5] [7] LV Einführung in die Geschichte der Kultur- und Sozialanthropologie – Univ. Prof. Dr. Andre Gingrich, WS 2005/2006





Internetquellen:
[5] [6] [9] [10] [11] http://de.wikipedia.org/wiki/Evolutionismus

[12] http://derstandard.at/?url=/?id=2107567

[13] http://science.orf.at/science/news/138639





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